LG Heidelberg Urt. v. 30.7.2020 – 5 O 66/20, BeckRS 2020, 19165
Sachverhalt
V und M schlossen am 05.08.2014 einen Mietvertrag über Geschäftsräume in W. Die Geschäftsräume wurden dabei zur Nutzung als Verkaufs- und Lagerräume eines Einzelhandelsgeschäfts mit sämtlichen Waren des täglichen Ge- und Verbrauchs vermietet. V und M vereinbarten eine monatliche Mindestmiete (Sockelmiete). Diese sollte sich darüber hinaus abhängig vom Jahresumsatz der M in drei Stufen erhöhen, beginnend ab einem Umsatz von 500.000,00 € pro Jahr (sog. Umsatzmiete). Die vereinbarte monatliche Sockelmiete beträgt derzeit einschließlich der vereinbarten Nebenkostenvorauszahlung und der Mehrwertsteuer 5.081,98 €. Die Miete ist nach dem Mietvertrag jeweils zum dritten Werktag des Monats auf das Konto der V zu überweisen. § 10 des Mietvertrages sieht ein Kündigungsrecht für M bei erheblicher Veränderung der Charakteristik der Verkehrssituation, der Einzelhandelssituation oder Straßenführung in Bezug auf die Erreichbarkeit des Objekts mit einer sechsmonatigen Frist zum Monatsende vor.
Zwischen dem 18.03.2020 bis einschließlich 19.04.2020 kam es zur Schließung der Filiale der M in W gemäß der Coronaverordnung des Bundeslandes BW vom 17.03.2020. Mit Schreiben vom 24.03.2020 teilte die M der V mit, dass sie die Miete für April 2020 zunächst nicht zahlen wird. Mit Schreiben vom 01.04.2020 forderte V die M auf, die Miete fristgerecht bis zum Freitag, den 03.04.2020 zu überweisen. Dies tat M nicht.
In der Zeit der Schließung erlitt M einen Rückgang des Nettoumsatzes gegenüber dem Durchschnitt aus 2018/2019 von 45,42 % im März und 39,25 % im April. Eine Verlagerung auf den online-Handel hat nicht stattgefunden. Die Mitarbeiter der M befanden sich in Kurzarbeit. M nutzte während dieser Zeit nur einen kleinen Teil der Räumlichkeiten für den Abbau verderblicher und saisonaler Waren.
V verlangt von M die Zahlung der Miete für April 2020 in Höhe von 5.081,98 €. Zu Recht?
Bearbeitervermerk: Durch das Gesetz zur Abmilderung der Folgen der COVID-19-Pandemie im Zivil-, Insolvenz- und Strafverfahrensrecht vom 27. März 2020 trat folgende Regelung in Kraft:
Art. 240 EGBGB
§ 1 Moratorium
(1) Ein Verbraucher hat das Recht, Leistungen zur Erfüllung eines Anspruchs, der im Zusammenhang mit einem Verbrauchervertrag steht, der ein Dauerschuldverhältnis ist und vor dem 8. März 2020 geschlossen wurde, bis zum 30. Juni 2020 zu verweigern, wenn dem Verbraucher infolge von Umständen, die auf die Ausbreitung der Infektionen mit dem SARS-CoV-2-Virus (COVID-19-Pandemie) zurückzuführen sind, die Erbringung der Leistung ohne Gefährdung seines angemessenen Lebensunterhalts oder des angemessenen Lebensunterhalts seiner unterhaltsberechtigten Angehörigen nicht möglich wäre. Das Leistungsverweigerungsrecht besteht in Bezug auf alle wesentlichen Dauerschuldverhältnisse. Wesentliche Dauerschuldverhältnisse sind solche, die zur Eindeckung mit Leistungen der angemessenen Daseinsvorsorge erforderlich sind. […]
(4) Die Absätze 1 und 2 gelten ferner nicht im Zusammenhang
1. mit Miet- und Pachtverträgen nach § 2[…]
§ 2 Beschränkung der Kündigung von Miet- und Pachtverhältnissen
(1) Der Vermieter kann ein Mietverhältnis über Grundstücke oder über Räume nicht allein aus dem Grund kündigen, dass der Mieter im Zeitraum vom 1. April 2020 bis 30. Juni 2020 trotz Fälligkeit die Miete nicht leistet, sofern die Nichtleistung auf den Auswirkungen der COVID-19-Pandemie beruht. Der Zusammenhang zwischen COVID-19-Pandemie und Nichtleistung ist glaubhaft zu machen. Sonstige Kündigungsrechte bleiben unberührt.
Skizze
Gutachten
Anspruch aus § 535 II BGB
V könnte gegen M einen Anspruch auf Zahlung von 5.081,98 € aus § 535 II BGB haben.
A. Anspruch entstanden
Der Anspruch müsste zunächst entstanden sein. V und haben am 05.08.2004 einen Mietvertrag gem. § 535 BGB geschlossen. Dieser ist mangels entgegenstehender Anhaltspunkte auch wirksam. Die Parteien einigten sich auf eine monatliche Sockelmiete, die derzeit 5.081,98 € beträgt. Dieser Betrag ist am dritten Werktag eines jeden Monats fällig. Die hier maßgebliche Aprilmiete war damit am 03.04.2020 fällig. Somit ist der Anspruch der V auf Zahlung von 5.081,98 € aus § 535 II BGB entstanden.
B. Anspruch nicht untergegangen
Der Anspruch dürfte jedoch auch nicht untergegangen sein.
I. (P) Mietminderung, § 536 I BGB
Der Anspruch der V könnte gem. § 536 I BGB wegen eines Mietmangels aufgrund der Schließungsanordnung vom 18.03.2020 bis einschließlich 19.04.2020 wegen der Covid-19 Pandemie zu mindern sein. Gemäß § 536 I BGB ist die vereinbarte Miete kraft Gesetzes gemindert, wenn die Mietsache zur Zeit der Überlassung an den Mieter einen Mangel aufweist, der ihre Tauglichkeit zum vertragsgemäßen Gebrauch aufhebt oder erheblich mindert, oder ein solcher Mangel während der Mietzeit entsteht. Ein derartiger Mangel ist dann gegeben, wenn der tatsächliche Zustand der Mietsache vom vertraglich geschuldeten Zustand abweicht. Soweit, wie hier, konkrete Parteiabreden zur Beschaffenheit der Mietsache fehlen, wird der zum vertragsgemäßen Gebrauch geeignete Zustand unter Berücksichtigung des vereinbarten Nutzungszwecks und des Grundsatzes von Treu und Glauben (§ 242 BGB) nach der Verkehrsanschauung bestimmt. [1]BGH NJW 2013, 680 Rn. 8. Voraussetzung ist aber, dass die Beschränkungen der konkret vermieteten Sache ihre Ursache gerade in deren Beschaffenheit und Beziehung zur Umwelt haben und nicht in den persönlichen oder betrieblichen Umständen des Mieters. [2]BGH BeckRS 2009, 20713; BGH NJW 2011, 3151 Rn. 8 Durch hoheitliche Maßnahmen bewirkte Gebrauchsbeschränkungen können deshalb nur dann einen Mangel begründen, wenn sie unmittelbar mit der konkreten Beschaffenheit, dem Zustand oder der Lage der konkreten Mietsache in Zusammenhang stehen. Maßnahmen, die nur den geschäftlichen Erfolg des Mieters beeinträchtigen, fallen in dessen Risikobereich. § 535 Abs. 1 S. 2 BGB verpflichtet den Vermieter nur, die Mietsache in einem Zustand zu erhalten, der dem Mieter die vertraglich vorgesehene Nutzung ermöglicht, das Verwendungsrisiko trägt hingegen der Mieter allein. [3]LG Heidelberg BeckRS 2020, 19165 Rn. 26; Sittner, Mietrechtspraxis unter Covid-19, NJW 2020, 1169, 1171.
Fraglich ist, ob vor diesem Hintergrund die Schließungsanordnung vom 18.03.2020 bis einschließlich 19.04.2020 wegen der Covid-19 Pandemie einen Mietmangel darstellt. Dagegen spricht, dass die hoheitlichen Maßnahmen hier dem Schutz der Bevölkerung vor allgemeinen gesundheitlichen Gefahren dienen. Sie knüpfen nicht unmittelbar an die konkrete Beschaffenheit der Mietsache an, sondern allein an den Betrieb des jeweiligen Mieters. Die Maßnahmen stellen dabei nicht auf die konkreten baulichen Gegebenheiten ab. Vielmehr ist die konkrete Nutzungsart durch den Mieter sowie der Umstand, dass in den betroffenen Flächen Publikumsverkehr stattfindet und dies Infektionen begünstigt, maßgeblich. [4]LG Heidelberg BeckRS 2020, 19165 Rn. 27; Sittner, Mietrechtspraxis unter Covid-19, NJW 2020, 1169, 1171. Die Mietsache ist zum vertraglich vereinbarten Zweck, der Nutzung als Verkaufs- und Lagerräume eines Einzelhandelsgeschäfts mit sämtlichen Waren des täglichen Ge- und Verbrauchs, weiterhin in gleicher Weise geeignet wie vor dem hoheitlichen Einschreiten. Untersagt ist lediglich dessen Betrieb, losgelöst von Fragen der Beschaffenheit oder Lage der Mietsache. Dieser Umstand fällt in den Risikobereich des Mieters. [5]LG Heidelberg BeckRS 2020, 19165 Rn. 28.
Folglich stellt die hoheitliche Schließungsanordnung zur Verhinderung der weiteren Ausbreitung der Covid-19 Pandemie keinen Mietmangel dar, der zu einer Mietminderung gem. § 536 I BGB führen würde.
Anmerkung: andere Ansicht• Schadensersatz gem. § 536a I BGB verlangen;
• unter den Voraussetzungen des § 536a II BGB den Mangel selbst beseitigen und Ersatz der erforderlichen Aufwendungen verlangen;
• den Mietvertrag gem. § 543 I, II 1 Nr. 1 BGB fristlos kündigen.
II. Wegfall der Gegenleistungspflicht, §§ 326 I 1, 275 I BGB
Die Verpflichtung zur Mietzahlung könnte gem. §§ 326 I 1, 275 I BGB weggefallen sein. Nach § 326 I 1 BGB entfällt der Anspruch auf die Gegenleistung, wenn der Schuldner nach § 275 I – III BGB nicht zu leisten braucht. Die Leistung des Vermieters müsste demnach gem. § 275 BGB unmöglich geworden sein. Die Hauptleistungspflicht des Vermieters im Mietvertrag besteht gem. § 535 I BGB darin, dem Mieter die Mietsache in einem zum vertragsgemäßen Gebrauch geeigneten Zustand zu überlassen. Dabei muss der Vermieter dem Mieter nur eine Gebrauchsmöglichkeit verschaffen. Dies zeigt sich durch § 537 I 1 BGB, wonach der Mieter von der Entrichtung der Miete nicht dadurch befreit wird, dass er durch einen in seiner Person liegenden Grund an der Ausübung seines Gebrauchsrechts gehindert wird. [8]LG Heidelberg BeckRS 2020, 19165 Rn. 32. Die Vermieterleistung erfasst also nicht mehr die Nutzung der Mietsache, sondern beschränkt sich auf deren Bereitstellung im gebrauchstauglichen Zustand. [9]Harke in BeckOK, BGB, 01.07.2020, § 537 Rn. 10, 10.1. Hier hat V der M die Geschäftsräume in einem gebrauchstauglichen Zustand bereitgestellt. Der Umstand, dass die Nutzung für M aufgrund der Schließungsanordnung nicht wie von ihr beabsichtigt möglich war, liegt nicht an der Sache selbst. [10]LG Heidelberg BeckRS 2020, 19165 Rn. 32; LG Frankfurt a. M., BeckRS 2020, 26613 Rn. 22. Somit ist die Leistung der V nicht gem. § 275 BGB unmöglich geworden und damit auch nicht gem. § 326 I 1 BGB die Gegenleistungspflicht der M weggefallen.
III. Vertragsanpassung gem. § 313 I BGB
Fraglich ist, ob der Vertrag gem. § 313 I BGB nach den Grundsätzen der Störung der Geschäftsgrundlage anzupassen ist.
1. (P) Anwendbarkeit
Dazu müsste § 313 BGB zunächst anwendbar sein.
Anmerkung: umfassendes GutachtenIn Ausformung der Vertragstreue und als Ausnahmetatbestand vom Grundsatz der Privatautonomie ist § 313 BGB besonders eng auszulegen und grundsätzlich nachrangig. [11]Sittner, Mietrechtspraxis unter Covid-19, NJW 2020, 1169, 1171. Jedoch enthält der Vertrag keine konkrete Regelung für den hier vorliegenden Fall einer behördlich angeordneten Ladenschließung. Etwaige vorrangige gesetzliche Regelungen, wie insbesondere das mietrechtliche Leistungsstörungsrecht der §§ 536 ff. BGB, sind hier ebenfalls nicht einschlägig.
Fraglich ist aber, ob § 313 I BGB durch Art. 240 § 2 I EGBGB gesperrt wird. Hiernach ist der Vermieter zumindest temporär nicht berechtigt, einen Mietvertrag wegen eines auf die Covid-19-Pandemie zurückzuführenden Zahlungsrückstandes zu kündigen. Gleichzeitig erstreckt sich das Moratorium in Art 240 § 1 Abs. 1 BGB gerade nicht auf Mietverträge. Es könnte daher zu argumentieren sein, dass Mieter nach einer bewussten Entscheidung des Gesetzgebers nicht berechtigt sind, das dort enthaltene Leistungsverweigerungsrecht geltend zu machen und weiterhin jedenfalls im Grundsatz verpflichtet sind, die Miete zu zahlen. [12]LG Heidelberg BeckRS 2020, 19165 Rn. 37. Allerdings wollte der Gesetzgeber mit der Regelung in Art 240 § 2 I EGBGB betroffenen Schuldnern einen zusätzlichen Schutz bieten und nicht ihre Rechte, etwa durch einen Ausschuss von § 313 BGB beschränken. [13]Brinkmann/Thüsing, NZM 2021, 5, 10. Aus diesem Grund ist das Rechtsinstitut der Störung der Geschäftsgrundlage weiterhin auf diese Fälle und somit auch hier anwendbar.
Anmerkung: eine neue Vermutungsregelung„Art. 240 EGBGB
§ 7 Störung der Geschäftsgrundlage von Miet- und Pachtverträgen
(1) Sind vermietete Grundstücke oder vermietete Räume, die keine Wohnräume sind, infolge staatlicher Maßnahmen zur Bekämpfung der COVID-19-Pandemie für den Betrieb des Mieters nicht oder nur mit erheblicher Einschränkung verwendbar, so wird vermutet, dass sich insofern ein Umstand im Sinne des § 313 Absatz 1 des Bürgerlichen Gesetzbuchs, der zur Grundlage des Mietvertrags geworden ist, nach Vertragsschluss schwerwiegend verändert hat.“
Ungeachtet der Frage, ob diese Norm auch auf Alt-Sachverhalte, wie den hier behandelten, Anwendung findet, stellte der Rechtsausschuss im Rahmen seiner Begründung klar, dass „die Anwendung des § 313 BGB auch bisher zu keinem Zeitpunkt gesetzlich ausgeschlossen [war]“ [14]BT Drucksache 19/25322, S.20f..
2. Reales Element
Ferner müsste das reale Element des § 313 I BGB gegeben sein. Hierzu müssen sich Umstände, die zur Grundlage des Vertrages geworden sind, schwerwiegend verändert haben.
Die Geschäftsgrundlage eines Vertrages wird dabei gebildet durch die nicht zum eigentlichen Vertragsinhalt erhobenen, bei Vertragsabschluss aber zutage getretenen gemeinsamen Vorstellungen beider Vertragsparteien oder die dem Geschäftsgegner erkennbaren und von ihm nicht beanstandeten Vorstellungen der einen Vertragspartei von dem Vorhandensein oder dem künftigen Eintritt gewisser Umstände, auf denen der Geschäftswille der Parteien sich aufbaut. [15]Grüneberg, in: Palandt BGB, 80. Aufl. 2021, § 313 Rn. 3. Hiervon wird auch die sog. große Geschäftsgrundlage erfasst, worunter die Erwartung verstanden wird, dass sich die grundlegenden politischen, wirtschaftlichen und sozialen Rahmenbedingungen des Vertrags nicht etwa durch Revolution, Krieg, Vertreibung, Hyperinflation oder eine (Natur-)Katastrophe ändern. [16]Finkenauer, in: MüKo BGB, 8. Aufl. 2019, § 313 Rn. 17. In diesem Sinne gingen V und M bei Vertragsschluss davon aus, dass keine zumindest bundes-, tatsächlich aber weltweite Pandemie auftritt, aufgrund derer flächendeckend Gewerbebetriebe geschlossen werden müssen. Diese ist auch schwerwiegend gestört, da die Nutzbarkeit der Mietsache – jedenfalls vorrübergehend – vollständig entfallen ist. [17]LG Heidelberg, BeckRS 2020, 19165 Rn. 42; Brinkmann/Thüsing, NZM 2021, 5, 7; Streyl, NZM 2020, 817, 821. Somit ist das reale Element des § 313 I BGB gegeben.
Anmerkung: Vermutungsregelung3. Hypothetisches Element
Des Weiteren müsste das hypothetische Element des § 313 I BGB gegeben sein. Danach müsste anzunehmen sein, dass die Vertragsparteien keine gleichlautende Vereinbarung über die Miete getroffen hätten, wenn sie die tatsächlichen Entwicklungen im Zeitpunkt des Vertragsabschlusses gekannt hätten. Bei lebensnaher Sachverhaltsauslegung ist davon auszugehen, dass V und M den Mietvertrag nicht in dieser Form geschlossen hätten, wenn sie die tatsächlichen Entwicklungen der Covid-19 Pandemie bei Vertragsschluss 2014 gekannt hätten. [19]vgl. Brinkmann/Thüsing, NZM 2021, 5, 8. Somit liegt auch das hypothetische Element vor.
Anmerkung: umfassendes Gutachten II4. (P) Normatives Element
Überdies müsste es für M i. S. d. des normativen Elements des § 313 I BGB nicht zumutbar sein, am Vertrag in seiner unveränderten Fassung festgehalten zu werden. Das Festhalten am Vertrag müsste für die betroffene Partei zu einem untragbaren, mit Recht und Gerechtigkeit schlechthin nicht mehr zu vereinbarenden Ergebnis führen. [20]BGH NJW 1993, 1856, 1860. Ausweislich des Wortlauts des § 313 I BGB ist hierbei insbesondere die vertragliche und gesetzliche Risikoverteilung zu berücksichtigen. Im Mietverhältnis trägt dabei grundsätzlich der Mieter das Verwendungsrisiko der Mietsache. [21]BGH NJW 2000, 1714, 1716. Bei der hier zu betrachtenden gewerblichen Miete meint dies vor allem das Risiko, mit der Mietsache Gewinne zu erzielen. Eine solche Risikoverteilung schließt für den Betroffenen regelmäßig die Möglichkeit aus, sich bei Verwirklichung des Risikos auf den Wegfall der Geschäftsgrundlage zu berufen. In der Folge ist eine Unzumutbarkeit für den Mieter letztlich nur dann erreicht, wenn er in der eigenen Existenz gefährdet oder jedenfalls in einem solchen Ausmaß wirtschaftlich betroffen ist, dass ein weiteres Festhalten am unveränderten Mietvertrag unter Berücksichtigung aller übrigen Umstände als unzumutbar erscheinen lässt. [22]LG Heidelberg, BeckRS 2020, 19165 Rn. 45.
a) Sockelmiete
M und V einigten sich auf eine Mindestmiete, die sich im Falle eines besonderen Umsatzerfolgs der M erhöhen sollte. Hiermit bezweckten die Parteien, dass V an einem Erfolg der M beteiligt wird. Der Misserfolg der M durch geringe oder ausbleibende Umsätze sollte hingegen auf die Miete keine Auswirkungen haben, wobei den Parteien die Möglichkeit schwankender Umsätze durchaus bewusst war. Dies zeigt die Vereinbarung der Sockelmiete. [23]LG Heidelberg, BeckRS 2020, 19165 Rn. 45, a.A.: Häublein/Müller NZM 2020, 481, 489.
b) Anderweitige Nutzung
Auch ist zu berücksichtigen, dass M – wenn auch nur zu einem kleinen Teil – die Mieträume auch während der Schließungsanordnung nutzte, um bestimmte Waren auszusortieren.
c) Wirtschaftliche Entwicklung
Maßgeblich kommt es zudem, wie soeben dargelegt, auf die erlittenen wirtschaftlichen Beeinträchtigungen der M an.
Der Umsatzrückgang von 45,42 % bzw. 39,25 % erscheint zwar zunächst erheblich. Allerdings wurden diesem weder die ersparten Mitarbeiterkosten durch die Inanspruchnahme von Kurzarbeit, noch etwaige Rücklagen gegenübergestellt. Auch ist nicht ersichtlich, inwieweit M staatliche Hilfen in Anspruch genommen oder sich diesbezüglich zumindest ernsthaft bemüht hat. Auch gegenüber ihren Lieferanten wäre es der M zumutbar, in ernsthafte Verhandlungen über Nachlässe bzw. Stundungen zu treten. Ferner hätte sie sich anderweitige Einnahmequellen durch die Ausweitung des Online-Handels schaffen oder dies zumindest versuchen können. [24]LG Heidelberg, BeckRS 2020, 19165 Rn. 51f. Es kann aufgrund des strengen Maßstabs einer Existenzgefährdung bzw. einer vergleichbaren wirtschaftlichen Beeinträchtigung von M gefordert werden, alles Zumutbare zu tun, um den wirtschaftlichen Schaden möglichst gering zu halten. Dies ist hier aus den genannten Gründen nicht ersichtlich.
d) Zeitraum
Des Weiteren ist auch der begrenzte Zeitraum der Schließung von nur 4 ½ Wochen zu beachten. Dies gilt umso mehr vor dem Hintergrund des § 10 des Mietvertrages. Dieser sieht in bestimmten Fällen, mit denen ein – theoretisch auch vollständiger – Umsatzrückgang der M einhergeht ein sechsmonatiges Festhalten am Vertrag vor, was von den Parteien damit offenbar als zumutbar erachtet wurde. Dies lässt sich auf den vorliegenden Fall übertragen und spricht gegen eine Unzumutbarkeit bei einer Dauer der Schließung von lediglich knapp über einem Monat. [25]LG Heidelberg, BeckRS 2020, 19165 Rn. 51f.
Anmerkung: Lockdown IIe) Zwischenergebnis
Somit ist M das Festhalten am unveränderten Vertrag nicht unzumutbar. Das normative Element des § 313 I BGB ist nicht gegeben.
Anmerkung: EinzelfallabhängigkeitAuch hier sei noch einmal darauf hingewiesen, dass die neue Vermutungsregelung in Art. 240 § 7 EGBGB keine Auswirkungen auf das normative Element des § 313 I BGB haben dürfte, sondern sich lediglich auf das reale Element bezieht. [27]BT Drucksache 19/25322, S.20f.
IV. Zwischenergebnis
Somit ist der Anspruch der V nicht untergegangen.
C. Anspruch durchsetzbar
Der Anspruch der V ist auch durchsetzbar.
D. Ergebnis
V hat gegen M einen Anspruch auf Zahlung von 5.081,98 € aus § 535 II BGB.
Zusatzfragen
Abwandlung: Es ist davon auszugehen, dass M einen Anspruch auf Vertragsanpassung aufgrund einer Störung der Geschäftsgrundlage auf eine Mietzahlungspflicht von 0 Euro für den Zeitraum der Schließung hat. M erklärte, soweit das Mietobjekt ab dem 20.04.2020 wieder geöffnet werden konnte, die Aufrechnung mit einem Teil der Miete aus März 2020 in Höhe von 2.134,43 € für den Zeitraum der Schließung im März (ab 18.03.2020). Die Miete für März 2020 hatte M zunächst noch vollständig und fristgerecht gezahlt. Hat V einen Anspruch auf Zahlung der Miete für den Zeitraum vom 20.04.2020 – 30.04.2020?Ferner müsste eine Aufrechnungslage gem. § 387 BGB gegeben sein. Es liegt mit dem Anspruch der V aus § 535 II BGB eine erfüllbare Hauptforderung vor.
M müsste zudem eine fällige Gegenforderung zustehen. Dies könnte sich aus § 812 I 1 Var. 1 BGB ergeben. V hat durch die Zahlung der März-Miete durch M entweder einen Auszahlungsanspruch gegen ihre Bank oder Eigentum und Besitz an den Geldscheinen/-münzen erlangt. Dies geschah auch durch Leistung der M. Außerdem dürfte hierfür kein Rechtsgrund vorgelegen haben. Ursprünglich bestand dieser in dem Anspruch aus § 535 II BGB. Dieser könnte durch die Vertragsanpassung gem. § 313 I BGB von Anfang weggefallen sein. Hierfür ist maßgeblich, ab welchem Zeitpunkt der Vertrag anzupassen ist. Im Regelfall gewährt § 313 I BGB nur eine Anpassung für die Zukunft ab dem Zeitpunkt des Anpassungsverlangens. Ausnahmsweise ist jedoch eine Rückwirkung auf den Zeitpunkt des Anpassungsereignisses möglich. Maßgeblich ist dafür eine umfassende Bewertung der Interessen beider Parteien. Je geringer die Schutzwürdigkeit des Anpassungsgegners ist, desto eher lässt sich auch mit Wirkung für die Vergangenheit anpassen. [28]Finkenauer, in: MüKo BGB, § 313 Rn. 98. Das LG Mönchengladbach nahm für den Fall der pandemiebedingten Schließung eine rückwirkende Vertragsanpassung an. Insbesondere sei dies angesichts der noch offenen Mieten der Folgemonate nicht mit Schwierigkeiten in der praktischen Abwicklung verbunden. [29]LG Mönchengladbach, BeckRS 2020, 30731 Rn. 57 ff. Auch in der Literatur wird die Rückwirkung angenommen. So argumentieren etwa Häublein/Müller, dass der Mieter die Auswirkungen der Schließungsanordnungen wohl erst wird plausibel machen können, wenn ihm entsprechende Abschlüsse vorliegen. Es liege im Interesse beider Parteien, die Miethöhe erst dann verbindlich angemessen anzupassen. [30]Häublein/Müller NZM 2020, 481, 491. Somit ist der Vertrag als ab dem 18.03.2020 gem. § 313 I BGB angepasst anzusehen. Damit lag kein Rechtsgrund für die Zahlung der Miete vor. Somit hat M einen Anspruch auf Rückzahlung der zu viel geleisteten Miete für März aus § 812 I 1 Var. 1 BGB. Eine Gegenforderung i.S.d. § 387 BGB liegt vor.
Die Forderungen sind auch gleichartig und gegenseitig. Somit liegt eine Aufrechnungslage gem. § 387 BGB vor. Die Aufrechnung ist auch nicht ausgeschlossen.
Somit ist der Anspruch der V aus § 535 II BGB gem. § 389 BGB erloschen. [31]vgl. hierzu LG Mönchengladbach, BeckRS 2020, 30731 Rn. 57 ff.
Zusammenfassung:
1. In der staatlich verordneten Schließung der Verkaufsstätten des Einzelhandels im Zuge der Covid-19 Pandemie liegt kein Mangel der Mietsache i.S.v. § 536 I 1 BGB. Dem Gewerberaumvermieter wird die Gebrauchsgewährung auch nicht gemäß § 275 I BGB unmöglich.
2. Eine Vertragsanpassung gem. § 313 I BGB kommt in diesen Fällen daher in der Regel nur dann in Betracht, wenn der Mieter in der eigenen Existenz gefährdet oder jedenfalls in einem solchen Ausmaß wirtschaftlich betroffen ist, dass ein weiteres Festhalten am unveränderten Mietvertrag unter Berücksichtigung aller übrigen Umstände als unzumutbar erscheinen lässt. Dabei ist auf die Umstände des Einzelfalls abzustellen.
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