BVerfG, Urteil v. 15.07.25 – 2 BvR 508/21, BeckRS 2025, 16587
Sachverhalt
(gekürzt und abgewandelt)
In Reaktion auf die Terroranschläge vom 11. September 2001 erließ der Kongress der USA eine Resolution, die den US-Präsidenten ermächtigt, Gewalt gegen jene Nationen, Organisationen oder Personen anzuwenden, die den Terrorangriff mutmaßlich geplant, genehmigt, begangen oder dazu Hilfestellung geleistet oder solchen Organisationen oder Personen Unterschlupf gewährt haben. In der Folge begannen die USA zum Zwecke gezielter Tötungen im Jemen und in anderen Staaten, bewaffnete Drohnen einzusetzen, die von den USA aus gesteuert wurden. Zur Steuerung der Drohnen nutzt das amerikanische Militär die in Deutschland gelegene Air Base Ramstein: Alle erforderlichen Daten und Steuerungssignale aus den USA zu den bewaffneten Drohnen werden über Ramstein geleitet und die Air Base vor jedem Drohneneinsatz kontaktiert, um sicherzugehen, dass das Übertragungssignal klar ist. Die Air Base Ramstein spielt damit eine wesentliche Rolle für den Einsatz von US-Drohnen – unabhängig davon, ob diese bewaffnet oder unbewaffnet, z.B. zu Aufklärungszwecken, operieren und ob es bei bewaffneten Drohnen tatsächlich zum Waffeneinsatz kommt. Die Nutzung der US-amerikanischen Air Base wird durch ein NATO-Stationierungsabkommen geregelt. Demnach müssen die stationierten Streitkräfte das deutsche Recht achten. Die Bundesrepublik besitzt allerdings keine Berechtigung, den Streitkräften gegenüber Verwaltungsakte zu erlassen und sie damit verfahrensrechtlich der deutschen Hoheitsgewalt zu unterwerfen. Deutschland ist operativ nicht in die Benutzung der Air Base oder die Missionen der USA einbezogen. Jedoch stehen die beiden Bündnispartner zu Einsätzen von unbemannten Luftfahrzeugen sowie zur Rolle des Luftwaffenstützpunkts Ramstein im engen Austausch.
Die Angriffe im Jemen intensivierten sich insbesondere zwischen 2009 und 2015, wobei viele Zivilpersonen getötet wurden. Zu den grundlegenden Ge- und Verboten des humanitären Völkerrechts gehören das Unterscheidungsgebot zwischen militärischen Zielen und Zivilpersonen sowie das Verbot exzessiver ziviler Kollateralschäden. Die USA argumentieren, diesen Grundsätzen genüge getan zu haben. Sofern Zivilpersonen gestorben seien, befinde sich die Zahl der Opfer noch im Rahmen des völkerrechtlich zulässigen, verhältnismäßigen Kollateralschadens. Die Schätzungen über die Anzahl der getöteten Zivilpersonen durch die USA und durch Nichtregierungsorganisationen gehen jedoch stark auseinander. Tatsächlich wurden die US-amerikanischen Drohnenangriffe von den Vereinten Nationen, aber auch in Wissenschaft und Praxis immer wieder kritisiert und für völkerrechtswidrig befunden. Ob die Drohnenangriffe völkerrechtlich legitim waren, ist aber nicht gerichtlich festgestellt und im Schrifttum und der Praxis umstritten.
Im Rahmen dieser Drohnenangriffe im Jemen werden auch K und seine Familie getroffen, wobei ein direkter Angehöriger von K getötet wird. Seine Familienmitglieder und er besitzen die jemenitische Staatsbürgerschaft. K möchte gerichtlich festgestellt wissen, dass Deutschlands Unterlassen geeigneter Maßnahmen zur Unterbindung der Nutzung der Air Base Ramstein für Einsätze von bewaffneten Drohnen rechtswidrig ist. Deutschland habe seine grundrechtlichen Schutzpflicht verletzt, indem es trotz positivem Wissen von den Missionen keine Konsultationen, diplomatische Mittel und internationale Streitbeilegungsmechanismen genutzt habe, um die Nutzung der Air Base zu verhindern. Dazu beruft er sich zum einen darauf, dass Deutschland seine Verpflichtungen aus dem ersten Zusatzprotokoll zu den Genfer Konventionen verletzt habe – ein völkerrechtlicher Vertrag, den Deutschland ratifiziert hat. Zum anderen ist er der Auffassung, dass seine körperliche Unversehrtheit und sein Leben auch durch das Grundgesetz geschützt seien und Deutschland zu dessen Schutz verpflichtet sei. Dazu argumentiert K mit der Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes. Es könne nicht sein, dass Deutschland auf seinem Territorium solcherlei Verbrechen geschehen lasse. Das Grundgesetz sähe gerade keine explizite Grenze des Grundrechtsschutzes für Ausländer*innen vor, sondern finde auf alle Menschen in ihrem Einflussgebiet Anwendung. Die Bundesrepublik müsse daher darauf hinwirken, dass von ihrem Staatsgebiet aus keine Menschenrechts- oder Völkerrechtsverletzungen ausgehen und auf ihren Bündnispartner (= die USA) einwirken, um derlei Verstöße zu unterbinden.
Die Bundesregierung entgegnet, dass eine solche Auslegung des Grundgesetzes dazu führen würde, dass „jeder, überall und immer“ grundgesetzlichen Schutz genieße. Deutschland könne nicht für jeden Völkerrechtsverstoß „zuständig“ sein. Eine solche Ausweitung der Schutzpflicht sei grundgesetzlich nicht vorgesehen und führe zu einer nicht tragbaren Belastung der öffentlichen Gewalt. Außerdem würde der vom Kläger angeführte Maßstab zu einer dauernden und umfassenden „Überwachungspflicht“ der Bündnispartner führen, deren Umsetzung erstens realitätsfern wäre und zweitens die Beziehung zu den Bündnispartnern und damit die internationalen Beziehungen der Bundesrepublik belaste. Man müsse sich darauf verlassen können, dass die Bündnispartner das Völkerrecht grundsätzlich achten. Zumindest lägen keine systematischen Völkerrechtsverstöße seitens der USA vor. Die Annahme, dass sich der US-Einsatz noch in einem zulässigen Rahmen befunden habe, sei daher zumindest völkerrechtlich vertretbar.
Nachdem K erfolglos versucht hat, einfachgerichtlichen Rechtsschutz zu erlangen, möchte er sich nunmehr an das Bundesverfassungsgericht wenden.
Prüfen Sie (ggf. hilfsgutachterlich) die Erfolgsaussichten eines Rechtsbehelfs vor dem Bundesverfassungsgericht.
Zusatzprotokoll zu den Genfer Abkommen vom 12. August 1949 über den Schutz der Opfer internationaler bewaffneter Konflikte (Protokoll I)
Art. 1 – Allgemeine Grundsätze und Anwendungsbereich
Die Hohen Vertragsparteien verpflichten sich, dieses Protokoll unter allen Umständen einzuhalten und seine Einhaltung durchzusetzen. […]
Art. 51 – Schutz der Zivilbevölkerung
[…] 2. Weder die Zivilbevölkerung als solche noch einzelne Zivilpersonen dürfen das Ziel von Angriffen sein. Die Anwendung oder Androhung von Gewalt mit dem hauptsächlichen Ziel, Schrecken unter der Zivilbevölkerung zu verbreiten, ist verboten.
Art. 57 – Vorsorgliche Maßnahmen
[…] 2. Wer einen Angriff plant oder beschliesst,a) […] iii) hat von jedem Angriff Abstand zu nehmen, bei dem damit zu rechnen ist, dass er auch Verluste unter der Zivilbevölkerung, die Verwundung von Zivilpersonen, die Beschädigung ziviler Objekte oder mehrere derartige Folgen zusammen verursacht, die in keinem Verhältnis zum erwarteten konkreten und unmittelbaren militärischen Vorteil stehen; […]
Skizze
Gutachten
In Betracht käme für K eine Verfassungsbeschwerde. Diese hat Erfolg, soweit sie gem. Art. 94 I Nr. 4a GG i.V.m. §§ 13 Nr. 8a, 90 ff. BVerfGG zulässig und begründet ist.
A. Zulässigkeit
I. Zuständigkeit des BVerfG
Das Bundesverfassungsgericht ist gem. Art. 94 I Nr. 4a GG i.V.m. §§ 13 Nr. 8a, 90 ff. BVerfGG für Individualverfassungsbeschwerden zuständig.
II. Beschwerdefähigkeit
K müsste beschwerdefähig i.S.d. Art. 94 I Nr. 4a GG, § 90 I BVerfGG sein. Beschwerdefähig ist jedermann, der*die Träger*in von Grundrechten ist. K ist als natürliche Person – unabhängig seiner Staatsbürgerschaft – grundsätzlich Träger von Grundrechten und damit beschwerdefähig.
III. Beschwerdegegenstand
Der Verfassungsbeschwerde müsste sich gem. § 90 I BVerfGG gegen einen Akt der öffentlichen Gewalt richten. K hat erfolglos den Rechtsweg bestritten, um eine Rechtswidrigkeit der Unterlassung Deutschlands festzustellen. In Betracht kommt daher eine Beschwerde gegen das letztinstanzliche Urteil, also ein Akt der Judikative (sog. Urteils-Verfassungsbeschwerde). Ein tauglicher Beschwerdegegenstand liegt vor.
IV. Beschwerdebefugnis
K müsste gem. § 90 I BVerfGG hinreichend geltend machen, durch die Entscheidung des Gerichts in seinen Grundrechten oder grundrechtsgleichen Rechten verletzt zu sein. Dies setzt zum einen die Behauptung einer Grundrechtsverletzung, die Möglichkeit einer solchen Verletzung und eine Beschwer bzw. Betroffenheit voraus.[1]Epping, Grundrechte, 10. Aufl. 2024, Rn. 178.
Vernetztes Lernen: Inwieweit können sich Unionsbürger*innen auf deutsche Grundrechte berufen?Alternativ kann dieses Problem auch im persönlichen Schutzbereich geprüft werden – dann ist die Falllösung weniger kopflastig.
1. Behauptung der Grundrechtsverletzung
K müsste behaupten, in Grundrechten oder grundrechtsgleichen Rechten verletzt zu sein. Das Bundesverfassungsgericht ist keine Superrevisionsinstanz. Demnach prüft es lediglich die Verletzung spezifischen Verfassungsrechts, während die Auslegung und Anwendung des einfachen Rechts den Fachgerichten vorbehalten bleibt. Die gerichtliche Prüfung beschränkt sich darauf, ob die der Entscheidung zugrunde gelegte Norm verfassungswidrig ist, gegen verfassungsrechtliche Verfahrensgarantien verstoßen wurde, die Gerichtsentscheidung unhaltbar und damit willkürlich ist (Art. 3 GG) oder die Anwendbarkeit von Grundrechten an sich oder deren Tragweite und Bedeutung verkannt wurden.[4]Vgl. Sodan/Ziekow, Grundkurs ÖR, 10. Aufl. 2023, § 51 Rn. 61. Hier könnten die Vorinstanzen die Anwendbarkeit sowie Bedeutung und Tragweite von Ks Grundrechten verkannt haben, indem sie Deutschlands Unterlassen nicht als rechtswidrig befanden.
2. Möglichkeit der Grundrechtsverletzung
Die Grundrechtsverletzung müsste auch möglich, d.h. nicht von vorneherein ausgeschlossen, sein.
a) Heranziehung der ersten Zusatzprotokolls zu den Genfer Konventionen
K beruft sich zunächst auf eine Verletzung des ersten Zusatzprotokolls der Genfer Konventionen, spezifisch Art. 1, Art. 51 und 57, da gem. Art. 1 des Zusatzprotokolls alle Vertragsparteien zur Durchsetzung der Konventionen verpflichtet sind. Sie dürfen demnach nicht an Rechtsverstößen anderer Parteien mitwirken. Völkerrechtliche Verträge haben gem. Art. 59 II GG den Rang eines Bundesgesetzes. Da das Bundesverfassungsgericht aber nur die Verletzung spezifischen Verfassungsrechts prüft, kann die Verletzung eines völkerrechtlichen Vertrags, als einfaches Bundesrecht, für sich nicht Gegenstand der Beschwerde sein. Eine Beschwerdebefugnis besteht in dieser Hinsicht nicht.
b) Heranziehung von Art. 2 II 1 GG
Da durch die Drohnenangriffe Leib und Leben tangiert werden, könnte sich eine Grundrechtsverletzung aus Art. 2 II 1 GG ergeben. Hier bedroht jedoch nicht der deutsche Staat, sondern die USA diese Rechtsgüter. Es ist aber allgemein anerkannt, dass die Grundrechte nicht nur vor staatlichen Eingriffen schützen, sondern dass sich aus den Grundrechten auch staatliche Schutzpflichten ergeben können, sodass sich der Staat bei Beeinträchtigungen Dritter schützend vor die Individuen stellen muss. Das Bestehen einer dahingehenden Schutzpflicht ist also prinzipiell möglich.
Klärungsbedürftig bleibt aber, ob Grundrechte auch in sog. „Ausland-Ausland-Situationen“, d.h. in Situationen in denen der fragliche Sachverhalte sich im Ausland abspielt und in denen ein*e Ausländer*in betroffen ist, Anwendung finden. Da das Grundgesetz dem Wortlaut nach keine territoriale oder personelle Beschränkung vorsieht, ist zumindest nicht von vornherein ausgeschlossen, dass die Grundrechte extraterritorial Anwendung finden. Die Möglichkeit, dass K in Art. 2 II 1 GG verletzt ist, besteht demnach.
3. Betroffenheit
K müsste selbst, unmittelbar und gegenwärtig betroffen sein. Bei Urteilsverfassungsbeschwerden ist dies i.d.R. unproblematisch gegeben, da der*die Beschwerdeführer*in durch den Beschluss persönlich und rechtskräftig adressiert wird.[5]Sodan/Ziekow, Grundkurs ÖR, 10. Aufl. 2023, § 51 Rn. 27.
4. Zwischenergebnis
K ist beschwerdebefugt.
V. Rechtswegerschöpfung und Subsidiaritätsprinzip
Die Verfassungsbeschwerde müsste dem Erfordernis der Rechtswegerschöpfung aus § 90 II BVerfGG sowie der Subsidiarität gerecht werden. K hat den Rechtsweg erfolglos erschöpft. Bei letztinstanzlichen Judikativakten, wie hier, ist der Grundsatz der Subsidiarität regelmäßig gewahrt.
VI. Form und Frist
K müsste die Verfassungsbeschwerde gem. §§ 93 I 1, 92, 23 I 1, 2 BVerfGG form- und fristgerecht, d.h. einen Monat nach Verkündung der Beschwerde schriftlich und begründet einreichen.
VII. Rechtsschutzbedürfnis
Ferner müsste K auch rechtsschutzbedürftig sein. Mangels entgegenstehender Anhaltspunkte wird dieses durch das Vorliegen der anderen Zulässigkeitsvoraussetzungen indiziert.[6]Maurer, Staatsrecht I, 6. Aufl. 2010, § 20 Rn. 134.
VIII. Zwischenergebnis
Die Beschwerde des K ist zulässig, sofern er diese form- und fristgerecht einreicht.
B. Begründetheit
Die Verfassungsbeschwerde müsste begründet sein. Dies setzt voraus, dass K in seinem Grundrecht aus Art. 2 II 1 GG verletzt wurde. Eine solche Verletzung ist anzunehmen, wenn K einen Anspruch auf staatlichen Schutz hatte und dieser nicht bzw. nicht ausreichend gewährt wurde.
Anmerkung: AufbauI. Bestand einer staatlichen Schutzpflicht
Grundsätzlich schützt Art. 2 II 1 GG den*die Einzelne*n vor staatlichen Eingriffen in seine individuellen Rechtsgüter Leben und körperliche Unversehrtheit (Abwehrdimension). Jedoch können die Grundrechte als objektive Wertentscheidung der Verfassung im Einzelfall auch eine staatliche Schutzpflicht begründen (Schutzdimension). Danach hat der Staat im Grundsatz die Pflicht, sich schützend und fördernd vor die Rechtsgüter Leben und körperliche Unversehrtheit zu stellen und sie vor (rechtswidrigen) Eingriffen seitens anderer zu bewahren.[8]BVerfG, BeckRS 2025, 16587, Rn. 83.
Fraglich ist, ob eine solche Schutzpflicht auch im konkreten Fall von K bestand. Problematisch erscheint bei US-Drohneneinsätzen im Jemen, dass das Grundgesetz weder örtlich, da jeminitisches Staatsgebiet, noch sachlich, da US-Streitkräfte, den relevanten Rechtsrahmen bildet. Vielmehr ist die Frage, ob die USA das humanitäre Völkerrecht verletzt haben. Die Rückkopplung zum deutschen Staat, und damit dem Grundgesetz, geschieht erst durch die notwendige Nutzung des deutschen Staatsgebiets zur Steuerung der Drohnen. Die Frage ist also, ob der deutsche Staat in seinem sachlichen und örtlichen Wirkbereich eine Pflicht hat, die Befolgung des humanitären Völkerrechts sicherzustellen. In anderen Worten: ob der Schutzauftrag aus Art. 2 II 1 GG so weit reicht, dass er Deutschland verpflichtet, gegen extraterritoriale, völkerrechtswidrige Handlungen anderer Staaten, die im deutschen sachlichen sowie örtlichen Einflussbereich geschehen, vorzugehen. Dies setzt im ersten Schritt voraus, dass das Völkerrecht für die Auslegung und Anwendung von Grundrechten überhaupt relevant ist. Also, ob das Grundgesetz völkerrechtsfreundlich auszulegen ist. Sofern dies der Fall ist, ist zu erörtern, ob und welche Pflichten sich daraus für den deutschen Staat ergeben.
1. Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes
In der Gesamtschau der Präambel, Art. 1 II, 9 II GG, 23, 24, 25, 26, 59 II, 100 II GG lässt sich eine Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes und des deutschen Staates, der sich als friedlicher Teil der internationalen Gemeinschaft sieht, herleiten. Das Grundgesetz weist über Art. 1 II GG dem Kernbestand an internationalen Menschenrechten zudem einen besonderen Schutz zu. Die Grundrechte des Grundgesetzes sind nach Art. 1 Abs. 2 GG und vor dem Hintergrund der Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes im Einklang mit den internationalen und europäischen Menschenrechten auszulegen.[9]BVerfG, BeckRS 2025, 16587, Rn. 85. Demzufolge obliegt den Staatsorganen der Bundesrepublik ein allgemeiner Schutzauftrag dahingehend, dass der Schutz der Menschenrechte und des humanitären Völkerrechts auch bei Sachverhalten mit Auslandsberührung gewahrt bleibt.[10]Ibid. Diese Völkerrechtsfreundlichkeit umfasst drei Dimensionen: Erstens müssen deutsche Staatsorgane die für sie bindenden Völkerrechtsnormen befolgen und Verletzungen unterlassen; zweitens hat der Gesetzgeber für die deutsche Rechtsordnung zu gewährleisten, dass durch eigene Staatsorgane begangene Völkerrechtsverstöße korrigiert werden können; drittens können die deutschen Staatsorgane unter bestimmten Voraussetzungen auch verpflichtet sein, das Völkerrecht im eigenen Verantwortungsbereich zur Geltung zu bringen, wenn andere Staaten es verletzen.[11]BVerfG, BeckRS 2025, 16587, Rn. 84.
Vernetztes Lernen: Das Grundgesetz wird sowohl völkerrechts- als auch unionsrechtsfreundlich verstanden. Wie unterscheidet sich die Wirkung der Unionsrechtsfreundlichkeit von der Wirkung der Völkerrechtsfreundlichkeit?Demgegenüber beansprucht das Unionsrecht Anwendungsvorrang. Im ersten Schritt müssen Normen unionsrechtskonfrom ausgelegt werden. Ist dies nicht möglich, z.B. weil kein Ermessensspielraum verbleibt, ist die nationale Rechtsnorm grundsätzlich unanwendbar.[12]Zu den Ausnahmen wie z.B. ultra vires vgl. EuGH und EZB Ultra vires, https://examensgerecht.de/eugh-und-ezb-ultra-vires/. Dies ist Ausdruck der Supranationalität des Unionsrechts, die sich im deutschen Recht etwa in Art. 23 und 24 GG niederschlägt. Das Völkerrecht kann eine solche Wirkung nicht beanspruchen.
2. Daraus resultierende Schutzpflicht gegenüber K
Klärungsbedürftig ist aber weiterhin, ob und wenn ja, welche Folgen sich aus dieser Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes ergeben. Konkret, ob daraus im vorliegenden Fall Schutzpflichten i.R.d. Art. 2 II 1 GG herleitbar sind. Zuerst müsste K in den Anwendungsbereich des Art. 2 II 1 GG fallen. Sofern dies der Fall ist, müssten die Voraussetzungen für das Bestehen einer extraterritorialen Schutzpflicht gegenüber K erfüllt sein.
a) Anwendbarkeit der Grundrechte auf K
Um eine extraterritoriale Schutzpflicht herleiten zu können, müsste Art. 2 II 1 GG vorliegend überhaupt auf K anwendbar sein. K ist jemenitischer Staatsbürger, der sich zum Zeitpunkt des relevanten Sachverhalts im Ausland befindet, sodass es sich um eine sog. Ausland-Ausland-Situation handelt. Der Wortlaut des Grundgesetzes sieht keine Begrenzung vor, die solche Konstellationen dem Grundgesetz entziehen würden. Vielmehr begründet der Wortlaut des Art. 1 III GG eine umfassende Bindung der deutschen Staatsgewalt an die Grundrechte des Grundgesetzes, die sich nicht allein auf das deutsche Staatsgebiet oder deutsche Staatsbürger*innen beschränkt.[13]BVerfG, BeckRS 2025, 16587, Rn. 87, 94. Auch aus der Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes lässt sich nicht ableiten, dass der Schutz der Grundrechte an der Staatsgrenze enden sollte. Der historische Anspruch eines umfassenden, den Menschen in den Mittelpunkt stellenden Grundrechtsschutzes spricht vielmehr dafür, dass die Grundrechte immer dann schützen sollen, wenn der deutsche Staat handelt und damit potentiell Schutzbedarf auslösen kann – unabhängig davon, an welchem Ort und gegenüber wem.[14]BVerfG, BeckRS 2025, 16587, Rn. 95 unter Verweis auf BVerfG, NJW 2020, 2235, Rn. 89. Auch die Völkerrechtsfreundlichkeit spricht dafür, dass sich die staatliche Schutzpflicht auch auf im Inland (mit)verursachte Gefährdungslagen bezieht, deren Risiko sich erst im Ausland und gegenüber dort befindlichen Ausländer*innen realisiert.[15]BVerfG, BeckRS 2025, 16587, Rn. 97. Damit findet Art. 2 II 1 GG grundsätzlich Anwendung.
Anmerkung: Weiterentwicklung des BND-Urteilsb) Voraussetzungen der Schutzpflicht aus Art. 2 II 1 GG
Der soeben hergeleitete, allgemeine Schutzauftrag zugunsten der Menschenrechte und des humanitären Völkerrechts könnte sich unter bestimmten Bedingungen zu einer konkreten grundrechtlichen Schutzpflicht aus Art. 2 II 1 GG verdichtet haben. Dies ist dann der Fall, wenn ein hinreichender Bezug zur deutschen Staatsgewalt vorliegt, die den Raum für ein Tätigwerden eröffnet, und die ernsthafte Gefahr besteht, dass das Handeln eines Drittstaats das humanitäre Völkerrecht und/oder die internationalen Menschenrechte, insbesondere das Recht auf Leben, systematisch verletzt werden.[17]BVerfG, BeckRS 2025, 16587, Rn. 86, 100.
Anmerkung: Völkerrecht im Verfassungsrechtaa) Hinreichender Bezug zur deutschen Staatsgewalt
Die Grundrechte binden die öffentliche Gewalt gem. Art. 1 III GG umfassend und insgesamt, unabhängig von bestimmten Funktionen, Handlungsformen oder Gegenständen staatlicher Aufgabenwahrnehmung.[19]BVerfG, BeckRS 2025, 16587, Rn. 99. Die politische Entscheidungsverantwortung ist untrennbar mit der Bindung an die Grundrechte verknüpft, sodass es kein staatliches Handeln gibt, das nicht grundrechtsgebunden ist.[20]BVerfG, BeckRS 2025, 16587, Rn. 99. Dies gilt auch für staatliches Unterlassen, wenn ein hinreichender Bezug einer grundrechtlichen Gefahrenlage oder einer hiervon betroffenen Person zur deutschen Staatsgewalt vorliegt – dann besteht für den Staat zugleich eine Handlungs- und Einflussmöglichkeit, die den Raum für ein Tätigwerden eröffnet.[21]BVerfG, BeckRS 2025, 16587, Rn. 100.
Die Frage, ob ein hinreichender Bezug gegeben ist, der einen Verantwortungszusammenhang begründet, ist anhand einer an den Umständen des Einzelfalls ausgerichteten wertenden Gesamtbetrachtung zu beantworten.[22]BVerfG, BeckRS 2025, 16587, Rn. 101. Ein rein zufälliger Gebietskontakt, der nur einen Teil eines Gesamtgeschehens darstellt, reicht für die Auslösung einer grundrechtlich relevanten Schutzbedürftigkeit im Ausland jedenfalls nicht aus. [23]BVerfG, BeckRS 2025, 16587, Rn. 101. Vielmehr bedarf es eines spezifischen Beitrags zur gefährdenden Handlung des Drittstaats von einem gewissen Gewicht, um einen hinreichenden Bezug zur grundrechtsgebundenen deutschen öffentlichen Gewalt herzustellen.[24]BVerfG, BeckRS 2025, 16587, Rn. 102. Hierfür spricht vorliegend, dass es nicht lediglich einen mit einer Datenweiterleitung verbundenen zufälligen Kontakt zum deutschen Staatsgebiet gibt. Vielmehr wurde mit der Errichtung der Satellitenstation in Ramstein eine Infrastruktur geschaffen, die speziell der Durchführung von Einsätzen bewaffneter Drohnen dient und ohne die die Durchführung der Einsätze bewaffneter Drohnen im Jemen nicht möglich wäre.[25]BVerfG, BeckRS 2025, 16587, Rn. 117. Somit besteht eine Handlungs- und Einflussmöglichkeit auf die Gefährdungen durch Drittstaaten, soweit sich eine hierfür notwendige Vorrichtung auf deutschem Staatsgebiet und damit im Zuständigkeits- und Verantwortungsbereich der deutschen öffentlichen Gewalt befindet.[26]BVerfG, BeckRS 2025, 16587, Rn. 118.
Anmerkung: Hinreichender Bezug zur deutschen öffentlichen Gewalt?bb) Systematische Verletzung des humanitären Völkerrechts und/oder der Menschenrechte
Ferner bedarf es für die Verdichtung des allgemeinen Schutzauftrags zu einer konkreten extraterritorialen Schutzpflicht der ernsthaften Gefahr, dass das dem Schutz des Lebens dienende humanitäre Völkerrecht und internationale Menschenrechte systematisch verletzt werden.[28]BVerfG, BeckRS 2025, 16587, Rn. 103. Dies setzt zwar nicht voraus, dass bereits systematische Völkerrechtsverletzungen erfolgt sind; es bedarf allerdings gewichtiger Anhaltspunkte, die den Eintritt derartiger Verletzungen nicht bloß möglich erscheinen, sondern ernstlich befürchten lassen.[29]Ibid.
Bei dieser Bewertung ist zu beachten, dass das Grundgesetz mit der Präambel, Art. 1II, Art. 9 II, Art. 16 II, Art. 23 bis Art. 26 und Art. 59 II GG in die internationale Gemeinschaft eingebunden und die deutsche öffentliche Gewalt programmatisch auf internationale Zusammenarbeit ausgerichtet ist.[30]BVerfG, BeckRS 2025, 16587, Rn. 105. Dementsprechend ist die Sicherstellung der außenpolitischen Handlungs- und Bündnisfähigkeit der Bundesrepublik und ihre Teilhabe an der internationalen Zusammenarbeit ein Verfassungsgut, das bei der Konkretisierung extraterritorialer Schutzpflichten zu berücksichtigen ist.[31]Ibid. Mit dieser Zielsetzung ist eine dauernde und umfassende Überwachungspflicht etwa hinsichtlich des Handelns in Deutschland stationierter Truppen verbündeter Staaten nicht vereinbar.[32]Ibid. Daher bedarf es gewichtiger Anhaltspunkte für das Vorliegen der Gefahr, dass der Bündnispartner nicht lediglich in Einzelfällen, sondern systematisch gegen das humanitäre Völkerrecht und die Menschenrechte verstößt.[33]BVerfG, BeckRS 2025, 16587, Rn. 106.
Im Rahmen der vorzunehmenden Prognose können bereits begangene Völkerrechtsverstöße ein Indiz für das Vorliegen einer Gefahr zukünftiger Verstöße sein. Ebenso können sich gewichtige Anhaltspunkte für das Vorliegen einer solchen Gefahr unter anderem aus Entscheidungen internationaler sowie nationaler Gerichte, Dokumenten des Europarats oder aus dem System der Vereinten ergeben.[34]Ibid. Hier gibt es aber keine solchen Entscheidungen. Vielmehr ist die völkerrechtliche Zulässigkeit umstritten. Bei der Prüfung, ob eine ernsthafte Gefahr systematischer Völkerrechtsverstöße durch einen Drittstaat besteht, ist die Rechtsauffassung der für außen- und sicherheitspolitische Fragen zuständigen deutschen Staatsorgane maßgeblich zu berücksichtigen, soweit sich diese als vertretbar erweist.[35]BVerfG, BeckRS 2025, 16587, Rn. 109. Den deutschen Staatsorganen kommt daher – i.R.d. Vertretbarkeit – bei der Regelung der auswärtigen Beziehungen ein grundsätzlich weit bemessener Spielraum zu. Nur wenn die Vertretbarkeit überschritten wird, wird das grundsätzlich zwischen Bündnispartnern herrschende Vertrauen in die Rechtmäßigkeit des Handelns des anderen infrage gestellt.[36]BVerfG, BeckRS 2025, 16587, Rn. 156.
Vorliegend ist die Zulässigkeit der US-amerikanischen Drohneneinsätze umstritten. Aus dem Umstand, dass auch deutliche Kritik an der US-amerikanischen Rechtsauffassung geübt wird, folgt jedoch (noch) nicht, dass die Rechtsauffassung der USA als unvertretbar bewertet werden muss.[37]BVerfG, BeckRS 2025, 16587, Rn. 144. Vielmehr lassen die unterschiedlichen, teils konträren Ansichten in Wissenschaft und Praxis den Schluss zu, dass die US-amerikanische Rechtsauffassung nicht außerhalb des völkerrechtlich Vertretbaren liegt,[38]Vgl. BVerfG, BeckRS 2025, 16587, Rn. 143. auch wenn sie sich nicht in allen Punkten mit der Auffassung der Bundesrepublik Deutschland deckt.[39]BVerfG, BeckRS 2025, 16587, Rn. 148.
Anmerkung: Änderung der Rechtsprechungslinie3. Zwischenergebnis
Zwar findet Art. 2 II 1 GG auf K grundsätzlich Anwendung, allerdings sind die sonstigen Voraussetzungen für das Bestehen einer Schutzpflicht nicht erfüllt.
Anmerkung: Andere AnsichtII. Zwischenergebnis
Die Bundesrepublik hat – mangels Bestand einer entsprechenden Schutzpflicht – das Grundrecht von K aus Art. 2 II 1 GG nicht verletzt.
C. Ergebnis
Eine Verfassungsbeschwerde von K wäre zulässig, aber unbegründet. Sie hätte daher keinen Erfolg.
Zusatzfragen
1. Welche (Schutz-)Dimensionen haben Grundrechte?Das BVerfG hat aber einige Ausnahmen dazu entwickelt: Erstens, wenn der*die Erb*in die Rechte auch im eigenen Interesse geltend machen kann (z.B. weil er in die fragliche Rechtsposition geerbt hat oder wegen Geltendmachung des postmortalen Persönlichkeitsrechts),[46]Bethge, in: Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, Bundesverfassungsgerichtsgesetz, 64. EL (2024), § 90 Rn. 365. zweitens bei Verfassungsbeschwerden von grundsätzlicher verfassungsrechtlicher Bedeutung. Letzteres ergibt sich auch schon aus § 93a II a) BVerfGG, wonach eine Verfassungsbeschwerde dann zur Entscheidung anzunehmen ist, wenn ihr – ganz unabhängig vom Ausmaß subjektiver Betroffenheit – grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung zukommt.[47]Rauber, Karlsruhe sehen und sterben: Verfassungsprozessuale Probleme beim Tod des Beschwerdeführers im Verfassungsbeschwerdeverfahren, DÖV 2011, 637 (641). Wenn eine solche Bedeutung angenommen würde, könnte K daher Verfassungsbeschwerde für seine Angehörigen erheben.
Zusammenfassung
1. Dem deutschen Staat obliegt ein allgemeiner Schutzauftrag zum Schutz grundlegender Menschenrechte und der Kernnormen des humanitären Völkerrechts.
2. Dieser Auftrag kann sich auch im Ausland und unabhängig von der Staatsangehörigkeit unter zwei Voraussetzungen zu einer konkreten Schutzpflicht aus Art. 2 II 1 GG verdichten: Erstens, wenn ein hinreichender Bezug zur deutschen Staatsgewalt, also ein spezifischer Beitrag von gewissem Gewicht der öffentlichen Gewalt, vorliegt. Zweitens, wenn die ernsthafte Gefahr besteht, dass das anwendbare Völkerrecht systematisch verletzt wird.
3. Ob solcherlei systematische Verstöße des humanitären Völkerrechts oder der Menschenrechte vorliegen, bemisst sich nach einer Vertretbarkeitsprüfung. Geprüft wird, ob die, völkerrechtliche Einschätzung der zuständigen Bundesorgane vertretbar ist.