BGH, Urteil vom 28. Mai 2024 – 6 StR 479/23 und BGH, Beschluss vom 10. Juli 2024 – 6 StR 220/24
Sachverhalt
T und O führten über längere Zeit eine Beziehung, die dann allerdings in die Brüche ging. Aus der Beziehung ging der Sohn S hervor. Das Sorgerecht wurde der O zugesprochen, T erhielt ein Recht auf regelmäßigen Umgang mit S. O verhinderte allerdings eigenmächtig den Umgang des T mit seinem Sohn. T, der der deutschen Sprache nicht mächtig und zudem juristisch ungebildet war, wusste auch nicht, wie er das Umgangsrecht durchsetzen konnte. Zudem befürchtete er, dass die O, die in der Vergangenheit mit Suchtproblemen zu kämpfen hatte, sich nicht vernünftig um das Kind kümmern würde. Um die Situation „im Auge zu behalten“ ließ T sich deswegen heimlich auf dem Dachboden des Mehrfamilienhauses nieder, in dem O und S gemeinsam wohnten. Kurze Zeit später zog der Mieter gegenüber der von O bezogenen Wohnung aus und es gelang T unbemerkt, sich in der leerstehenden Wohnung einzurichten. In den folgenden Wochen entwickelte sich bei T, dem sein Sohn sehr fehlte, eine unbändige Wut auf die O, die ihm den Kontakt zu S konsequent vorenthielt. T entwickelte Tötungsfantasien und bedrohte die O in Sprach- und Kurznachrichten, die er ihr schickte. O, die nach wie vor nicht wusste, dass T heimlich die leerstehende Wohnung nebenan bezogenen hatte, befürchtete, dass dieser sich Zutritt zu ihrer Wohnung verschaffen und ihr oder dem S etwas antun könnte. Aus diesem Grund brachte sie Überwachungskameras in ihrer Wohnung an und beschaffte sich zu ihrer Verteidigung ein Reizstoffspray.
Während der gesamten Zeit beobachtete der T durch den Türspion das Ein- und Ausgehverhalten der O, um einen Zeitpunkt auszumachen, in welchem sie sich nur schwer verteidigen können würde. Die O verfolgte einen relativ geregelten Tagesablauf, welchen T bereits nach kurzer Zeit praktisch auswendig konnte. Eines Morgens beobachtete T die O dabei, wie sie ihre Wohnung verließ. Er antizipierte korrekt, dass O ca. eine Stunde später ihren Wocheneinkauf tragend wieder zurückkehren würde. Aus seiner aufgestauten Wut heraus entschloss er sich, die schwer beladene O bei dieser Gelegenheit zu töten, sobald sie wiederkommen würde. Als O von ihren Erledigungen zurückkehrte und mit Einkaufstüten in beiden Händen das Treppenhaus betrat, verließ der mit einem Küchenmesser (Klingenlänge: 20cm) bewaffnete T also seine Wohnung und begann ansatzlos auf die überraschte und direkt vor seiner Tür stehende O einzustechen, die aufgrund der Stichwunden verblutete.
Strafbarkeit des T nach §§ 212 I, 211 I StGB?
Abwandlung:
In derselben Ausgangssituation bewaffnete T sich nicht mit einem Küchenmesser, sondern mit zwei geladenen und entsicherten Pistolen, von denen er jeweils eine in jeder Hand hielt. Nach dem Öffnen „seiner“ Wohnungstür näherte T sich der O auf 1,50 Meter und gab einen Schuss in deren Richtung ab, der sie allerdings verfehlte. Die kämpferisch erfahrene O brachte den T daraufhin zu Boden. Bei dem anschließenden Gerangel lösten sich aus beiden Pistolen insgesamt drei Schüsse, welche die O in nicht lebensbedrohlicher Weise verletzten. Nachdem es O gelang, dem T eine Pistole zu entwinden ließ dieser nach etwas weiterem Gerangel infolge des festen Griffs der O die zweite Pistole fallen, da er keine Möglichkeit sah, in der konkreten Situation noch den Tod der O herbeiführen zu können. Zu weiteren Tätlichkeiten kam es nicht.
Strafbarkeit des T? § 123 StGB ist nicht zu prüfen.
Skizze
Gutachten
I. Ausgangsfall
T könnte sich durch das Erstechen der O nach §§ 212 I, 211 I StGB strafbar gemacht haben.
Vernetztes Lernen: Das Verhältnis von Mord und Totschlag und die Prüfung von Tötungsdelikten im ersten und zweiten ExamenDas Verhältnis der Tötungsdelikte aus § 211 StGB, § 212 StGB und § 216 StGB ist zwischen der Rechtsprechung und der Literatur umstritten. Kern des Streites ist hierbei, ob die Delikte zueinander in einem Qualifikationsverhältnis stehen (so die herrschende Meinung in der Literatur) oder ob es sich um jeweils eigenständige Delikte handelt (so die Rechtsprechung). Für die Rechtsprechung spricht hierbei die systematische Stellung des Mordes vor dem Totschlag sowie der Wortlaut des § 212 I StGB („ohne Mörder zu sein“), der ein Exklusivitätsverhältnis zwischen den Delikten andeutet. Für die Literatur spricht neben der weitgehenden Kongruenz der Tatbestände vor allem, dass die Rechtsprechung Mordmerkmale konsequent als „strafbegründend“ einordnen und deshalb im Rahmen der Teilnehmerstrafbarkeit auf § 28 I StGB zurückgreifen muss, was nicht immer zu billigen Ergebnissen führt.
Ein „Streitentscheid“ ist dabei in der Klausur nur erforderlich, wenn die Meinungen tatsächlich einmal zu verschiedenen Ergebnissen bezüglich einer Strafbarkeit kommen, also nur, wenn bei einem Tötungsdelikt bei Täter und Teilnehmer abweichende Mordmerkmale vorliegen (oder eben nicht vorliegen). In diesen Fällen ist die Klausur gerade schwerpunktmäßig auf dieses Problem zugeschnitten, welches dementsprechend umfangreich bearbeitet werden sollte.
Auch in den Fällen, in denen man zum Streit selbst kein Wort verliert, nimmt man allerdings durch seinen Prüfungsaufbau implizit Stellung. Eine gemeinsame Prüfung der Delikte (wie hier) impliziert nämlich ein Qualifikationsverhältnis, wie von der herrschenden Literatur angenommen, und empfiehlt sich, da dies die insgesamt wohl vorzugswürdige Lösung ist, für das erste Examen. Im zweiten Examen ist jedoch allein die Ansicht der Rechtsprechung maßgeblich, so dass die Delikte zwingend getrennt zu prüfen sind.
1. Tatbestand
T müsste den Tatbestand des Delikts erfüllt haben.
a. Objektiver Tatbestand
T hat durch die Stiche mit dem Küchenmesser die O, also einen Menschen, in kausaler und ihm objektiv zurechenbarer Weise getötet, so dass der objektive Tatbestand erfüllt ist.
b. Subjektiver Tatbestand
T müsste auch den objektiven Tatbestand des Mordes erfüllt haben. Dafür müsste er mit Tötungsvorsatz gehandelt und ein subjektives Mordmerkmal erfüllt haben.
aa. Tötungsvorsatz
T, der sich bereits im Voraus dazu entschlossen hatte, die O zu töten, kam es gerade auf die Herbeiführung des Taterfolges an, so dass er mit Tötungsabsicht, also Vorsatz in Form des Dolus Directus 1. Grades, handelte.
bb. Heimtücke
T könnte zudem heimtückisch gehandelt haben.
Heimtückisch handelt, wer die Arg- und Wehrlosigkeit des Opfers bewusst zur Tötung ausnutzt.
Arglos ist, wer sich im Zeitpunkt der Tötungshandlung keines Angriffs auf seine körperliche Unversehrtheit versieht. Wehrlos ist, wer infolge seiner Arglosigkeit zur Abwehr nicht oder nur eingeschränkt in der Lage ist. Fraglich ist, ob dies bezogen auf O in der konkreten Angriffssituation der Fall ist.
Ein Angriff des T kam abstrakt gesehen für die O gerade nicht überraschend, vielmehr rechnete sie mit einem solchen und hatte aus diesem Grund bereits Kameras in ihrer Wohnung angebracht und sich mit einem Reizgasspray ausgerüstet. Daher kann grundsätzlich nicht angenommen werden, dass O sich keines Angriffs auf ihre körperliche Unversehrtheit versah. Dieses Ergebnis muss jedoch möglicherweise vor dem Hintergrund der planerischen Vorkehrungen des T korrigiert werden. Bei einer von langer Hand geplanten und vorbereiteten Tat kann das heimtückische Vorgehen im Sinne der Norm nämlich auch darin liegen, dass der Täter bestimmte Vorkehrungen trifft, um dadurch eine günstige Gelegenheit zur Tötung zu schaffen, beispielsweise das Locken des Tatopfers in einen Hinterhalt oder das Stellen einer Falle.[1]BGH 6 StR 479/23 – Urteil vom 28. Mai 2024 In diesen Fällen ist es unerheblich, ob das Opfer bei Ausführung der Tötungshandlung abstrakt mit einer solchen rechnete oder nicht, da der Täter durch seine Vorkehrungen und die gezielte Wahl des Angriffszeitpunktes eine etwaig aus dem abstrakten Argwohn resultierende Abwehrmöglichkeit des Opfers konterkariert. Vorliegend studierte T über Wochen aus nächster Nähe den Tagesablauf der O, um den perfekten Zeitpunkt für einen Angriff auszumachen. In Kenntnis dieses Tagesablaufes, der sehr geregelt war, antizipierte er bewusst, dass O im von ihm ausgewählten Angriffszeitpunkt mit dem Einkauf beladen und deshalb nur eingeschränkt zur Gegenwehr in der Lage sein würde. Diese Annahme bewahrheitete sich dann auch, so dass O in der konkreten Angriffssituation trotz ihres allgemeinen Argwohns nicht in der Lage war, sich gegen die Attacke zur Wehr zu setzen. Der allgemeine Argwohn der O steht einer Heimtücke aufgrund der Umstände des Einzelfalles mithin nicht entgegen, da sie dennoch wehrlos war.
Vernetztes Lernen: Andere HeimtückekonstellationenZu anderen Heimtückekonstellationen vergleiche schon https://examensgerecht.de/aufheulende-motoren-und-ein-versuchter-ehrenmord/ und https://examensgerecht.de/heimtuecke-eines-erpressten/
Der Heimtücke könnte indes entgegenstehen, dass T der O vom Anfang der Angriffshandlung an offen feindselig gegenübertrat, so dass er die Wehrlosigkeit der O gerade nicht bewusst zur Durchführung seiner Tötungshandlung ausnutzte. Allerdings kann ein Tatopfer auch dann arglos (und deshalb wehrlos) sein, wenn der Täter ihm zwar offen feindselig gegenübertritt, die Zeitspanne zwischen dem Erkennen der Gefahr durch das Opfer und dem unmittelbaren Angriff allerdings so kurz ist, dass dem Opfer keine Möglichkeit bleibt, auf die Gefahr zu reagieren, obwohl es diese sofort erkennt.[2]BGH 6 StR 479/23 – Urteil vom 28. Mai 2024. T trat der O hier zwar offen mit gezücktem Messer entgegen und verdeckte seine Angriffsabsicht insofern nicht, in der konkreten Angriffssituation trat er jedoch aus der Wohnungstür, als die überraschte O unmittelbar vor dieser stand und beide Hände voll mit Einkaufstüten hatte, so dass diese aufgrund der kurzen Zeitspanne nicht in der Lage war, sich gegen die Messerstichs zur Wehr zu setzen. Aufgrund der Dynamik des Geschehens steht also auch das offen feindselige Handeln des T der Heimtücke nicht entgegen.
T handelte mithin heimtückisch.
Anmerkung: OriginalsachverhaltIm Originalfall wurde das Verfahren vom BGH an das LG Verden zurückverwiesen, weil dieses die Reichweite der Heimtücke dem Grunde nach verkannt und in der Folge keine ausreichenden Beweise zum planmäßig verdeckten Vorgehen des Angeklagten sowie zur konkreten Wehrlosigkeit der Geschädigten erhoben hatte. Der Sachverhalt wurde hier deswegen dahingehend ergänzt, dass ein planmäßiges Vorgehen des T und eine Wehrlosigkeit der O Vorlagen, hier besteht für Klausurersteller:innen allerdings (wie immer) ein Abweichungsspielraum. Der Fall sollte deshalb (wie immer) auf keinen Fall „vom Ergebnis her“ gelernt werden, stattdessen sollten die Grundsätze der ständigen Rechtsprechung zur Heimtücke bei „von langer Hand geplanten“ Taten verinnerlicht werden, bevor jeweils der konkrete Klausursachverhalt subsumiert wird.
cc. Zwischenergebnis
T handelte mit Tötungsvorsatz und heimtückisch, so dass er den subjektiven Tatbestand des Mordes erfüllte.
c. Zwischenergebnis
T erfüllte den Tatbestand des Mordes.
2. Rechtswidrigkeit
T müsste auch rechtswidrig gehandelt haben.
In Frage kommt hier allenfalls eine Rechtfertigung über die Grundsätze der Notwehr nach § 32 StGB, da T von O der ihm gesetzlich zustehende Umgang mit seinem Sohn vorenthalten wurde.
Das eigenmächtige Vorenthalten des Kontaktes zu S durch die O stellt einen gegenwärtigen und rechtswidrigen Angriff auf dessen Umgangsrecht dar, so dass eine Notwehrlage nach § 32 II StGB vorliegt.
Fraglich ist allerdings bereits, ob die Tötungshandlung zur Beseitigung dieses Angriffs überhaupt geeignet war, denn es ist unwahrscheinlich, dass dem T infolge der Tötung von O weiterhin ein Umgangsrecht mit S gewährt wird. Jedenfalls stellt die Tötungshandlung aus Sicht des T aber nicht das relativ mildeste Mittel gleicher Wirksamkeit zur Durchsetzung des Umgangsrechtes mit S dar, vielmehr wäre T das Einholen von Rechtsbeistand zumutbar gewesen. Eine taugliche Notwehrhandlung lag somit nicht vor.
T handelte nicht gemäß § 32 StGB gerechtfertigt und mithin insgesamt rechtswidrig.
3. Schuld
Entschuldigungsgründe sind nicht ersichtlich, T handelte mithin auch schuldhaft.
4. Strafzumessung
Fraglich ist, ob das Mordmerkmal der Heimtücke hier unter normativen Gesichtspunkten restriktiv ausgelegt werden muss, da der T, der im Wesentlichen motiviert, durch die jedenfalls in Teilen nachvollziehbare Frustration wegen der Vorenthaltung seines Umgangsrechts mit S handelte, ansonsten zwingend einer lebenslangen Freiheitsstrafe auszusetzen wäre. Eine solche normative Restriktion ist höchstrichterlich für besonders gravierende Einzelfälle anerkannt, um eine verhältnismäßige Sanktion zu gewährleisten.[3]BVerfGE 45, 187. Unter welchen Voraussetzungen die Restriktion allerdings gewährt werden kann, ist umstritten.
In der Rechtsprechung wurde früher vertreten, dass die Heimtücke auf Tatbestandsebene eine „feindliche Willensrichtung“ des Angreifers voraussetze.[4]BGHSt 9, 385. Umgekehrt handele also allein derjenige nicht heimtückisch, der „zum Besten“ des Opfers agiert (beispielsweise in Gnadenstoß-Fällen). Diese Lösung führt jedoch kein sachgerechtes Ergebnis in Fällen herbei, in denen der Täter aus nachvollziehbaren Motiven, die nicht im Altruismus dem Opfer gegenüber liegen, handelt (beispielsweise der Vater, der den Vergewaltiger seiner Tochter tötet). Sie kann daher nicht überzeugen.
Vernetztes Lernen: Gnadenstoß-FallEin typisches und recht aktuelles Beispiel eines Gnadenstoß-Falles wäre https://examensgerecht.de/das-leid-der-welt-sollst-du-nicht-ertragen/
Man könnte daher andenken, das Merkmal der Heimtücke auf Tatbestandsebene dahingehend verengt auszulegen, dass es das Ausnutzen einer besonderen Vertrauensstellung voraussetzt, da man nur innerhalb einer solchen Beziehung besonders tückisch handeln könne.[5]Vgl. Hassemer, Jus 1971, 626 (630). Das Merkmal des „besonderen Vertrauensverhältnisses“ ist allerdings sehr unbestimmt und bedarf selber der Auslegung, so dass es mit dem strafrechtlichen Bestimmtheitsgebot im Konflikt steht. Außerdem wären derjenige, der ganz ohne persönliche Beziehung tötet (bspw. der Auftragsmörder) privilegiert, obwohl gerade hier ein besonderes Sanktionsinteresse besteht.
Nach der sogenannten „Lehre von der negativen Typenkorrektur“ soll im Rahmen einer Gesamtwürdigung auf Tatbestandsebene ermittelt werden, ob die Tat „besonders verwerflich“ ist, nur dann sei sie als heimtückisch einzuordnen.[6]Vgl. Eser, JR 1981, 177 (183). Auch wenn die Vornahme einer Gesamtabwägung anhand der Umstände des Einzelfalles für das Herbeiführen von Einzelfallgerechtigkeit sinnvoll erscheint, lässt sich ein derartig wertendes Kriterium wegen des strafrechtlichen Bestimmtheitsgebots nicht auf Ebene des Tatbestandes verorten. Selbiges gilt für den Begriff der „besonderen Verwerflichkeit“, der keinen Anknüpfungspunkt im Normtext findet und seinerseits weiterer Auslegung bedarf.
Überzeugend ist daher eine solche Gesamtabwägung zwar vorzunehmen, allerdings auf Ebene der Strafzumessung, auf welcher unbillige Ergebnisse über eine Anwendung von § 49 I StGB korrigiert werden können (sogenannte „Rechtsfolgenlösung“).[7]BGHSt 30, 105.
Die Motivlage des T kann also nach einer Gesamtwürdigung der Umstände des Einzelfalles über § 49 I StGB auf Rechtsfolgenseite berücksichtigt werden.
Vernetztes Lernen: Behandlung dieses Meinungsstreits in der KlausurDie Behandlung dieses Streits ist in den Klausuren des ersten und zweiten Staatsexamens sehr unterschiedlich.
Im ersten Staatsexamen sollte man den Streit, da letztendlich eine Entscheidung für die Rechtsfolgenlösung naheliegend ist, unter dem Punkt „Strafzumessung“ bringen, der auf die Schuld (bzw. ggf. auf den Rücktritt) folgt, da man bei einer Behandlung auf Tatbestandsebene sonst ohnehin nach unten verweisen müsste. Da grundsätzlich im ersten Examen die Bestimmung der Strafhöhe nicht notwendig ist, hängt der Streit hier etwas „in der Luft“, da man letzten Endes zwar auf eine mögliche Strafreduktion nach § 49 I StGB verweist, eine solche jedoch daraufhin nicht vornimmt. Streng genommen hat der Streit also keine weitere Auswirkung auf den Rest der Klausur, der „Gebrauchswert“ liegt allein darin, dass man sein erworbenes Wissen sowie dogmatisches Verständnis zeigen kann (Immerhin!). Da es sich bei diesem Problem jedoch um einen „Klassiker“ handelt, kann und sollte man es (ruhig auch angemessen ausführlich, wenn die Zeit vorhanden ist) durchaus in jeder Klausur mit einem Heimtücke-Mord unterbringen.
In der Staatsanwaltsklausur im zweiten Examen muss die Problematik deutlich seltener diskutiert werden. Die Strafzumessung kann allgemein zwar im Rahmen des B-Gutachtens relevant werden, wenn es um die Wahl des zuständigen Gerichts geht, so dass man Andenken könnte, hier nach einem Aufriss des Problems auf eine Strafmilderung nach § 49 I StGB zu kommen. Weil der Mord allerdings nach § 74 II Nr. 3 GVG unabhängig von einer etwaigen Strafmilderung beim Schwurgericht anzuklagen ist, würde diese Modifizierung des Strafrahmens letztendlich nichts zur Bestimmung des zuständigen Gerichts beitragen. Da im zweiten Examen das bloße Aufzeigen dogmatischer Kenntnisse ohne Konsequenz für die praktische Lösung jedoch nicht angebracht ist, sollte man sich die Zeit lieber sparen und die normative Restriktion nicht ansprechen, sofern dahingehend nicht im Sachverhalt „mit dem Zaunpfahl gewunken“ wird.
5. Ergebnis
T hat sich nach §§ 212 I, 211 I StGB strafbar gemacht.
II. Abwandlung
T könnte sich durch die Schüsse auf O strafbar gemacht haben.
1. §§ 212 I, 211 I StGB
Eine Strafbarkeit wegen Mordes scheidet aus, da die O nicht verstorben ist.
2. §§ 212 I, 211 I, 22, 23 I StGB
T könnte wegen Abgabe der Schüsse wegen versuchten Mordes nach §§ 212 I, 211 I, 22, 23 I StGB strafbar sein.
Vernetztes Lernen: Prüfen der VersuchsstrafbarkeitDie Versuchsstrafbarkeit ist nicht nur zu prüfen, wenn der Taterfolg nicht eintritt, sondern auch (was oft vergessen wird), wenn der Täter eine Tat begehen will, die Erfüllung des objektiven Tatbestandes jedoch aus anderen Gründen scheitert (beispielsweise, weil die Kausalität unterbrochen wird).
a. Vorprüfung
O ist nicht verstorben, wegen des Verbrechenscharakters des Mordes (§ 12 I StGB) ist jedoch auch der Versuch der Tat strafbar (§ 23 I StGB).
b. Tatbestand
T könnte den Tatbestand des versuchten Mordes erfüllt haben, wenn er hinsichtlich einer solchen Tat einen Tatentschluss gefasst und unmittelbar zu ihr angesetzt hat.
aa. Tatentschluss
T kam es nach seiner Vorstellung vom Ablauf der Tat gerade darauf an, die O in heimtückischer Weise zu töten, so dass er Tatentschluss hinsichtlich eines Mordes hatte.
bb. Unmittelbares Ansetzen
Indem T mit den Pistolen auf die O schoss, überschritt er subjektiv die Schwelle zum „Jetzt-geht’s-los“ der Tatbestandsverwirklichung und nahm in objektiver Hinsicht Handlungen vor, die unmittelbar in der Verwirklichung des Tatbestandes münden sollten, so dass er unmittelbar zur Tatbegehung ansetzte.
c. Rechtswidrigkeit und Schuld
T handelte weder gerechtfertigt noch entschuldigt.
d. Rücktritt
T könnte jedoch gemäß § 24 I 1 StGB schuldbefreiend von der Tat zurückgetreten sein, indem er die zweite Pistole fallen ließ. Dafür dürfte der Versuch nicht fehlgeschlagen sein und das Fallenlassen der Pistole müsste eine taugliche Rücktrittshandlung darstellen.
Fehlgeschlagen ist ein Versuch, wenn der Täter entweder tatsächlich erkennt oder irrig annimmt, dass die Vollendung der geplanten Tat mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln und ohne zeitliche Zäsur nicht mehr möglich ist.[8]Wessels/Beulke/Satzger, Strafrecht AT, 53. Auflage, Rn. 1010. Entscheidend ist hier, dass es für den Fehlschlag nicht auf die objektiven Umstände, sondern auf die subjektive Vorstellung des Täters von der Tat ankommt. Das mit der Tat von T verfolgte Ziel war hier, das Ableben der O auf beliebige Weise, nicht zwangsläufig unter Einsatz beider Pistolen herbeizuführen, so dass allein das Entwinden der ersten Pistole durch O keinen Fehlschlag des Versuchs zur Folge hatte.[9]BGH, Beschluss vom 10. Juli 2024 – BGH 6 StR 220/24, Rn. 4. Ebenso führt das Fallenlassen der zweiten Pistole durch den T nicht zwangsläufig zu einem Fehlschlag des Versuchs, solange dieser noch davon ausgeht, den Taterfolg ohne wesentliche zeitliche Zäsur mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln nach wie vor herbeiführen zu können.[10]BGH, Beschluss vom 10. Juli 2024 – BGH 6 StR 220/24, Rn. 4. Dies ist jedoch nicht der Fall, vielmehr wurde T von der körperlich überlegenen O überwältigt und ließ die zweite Pistole aufgrund ihres starken Griffes und des Umstands fallen, dass er davon ausging, den Taterfolg gerade nicht mehr herbeiführen zu können. Nach Vorstellung des T ist sein Tötungsversuch also fehlgeschlagen.
T konnte nicht mehr strafbefreiend vom Versuch zurücktreten.
e. Zwischenergebnis
T hat sich des versuchten Mordes an O nach §§ 212 I, 211 I, 22, 23 I StGB strafbar gemacht.
Indem T die O im Rahmen der Auseinandersetzung mit insgesamt drei Pistolenkugeln traf und sie dadurch in nicht tödlicher Weise verletzte, hat er sich zudem nach §§ 223 I, 224 I Nr. 2 Alt. 1 StGB strafbar gemacht.
3. §§ 223 I, 224 I Nr. 2 Alt. 1 StGB
Indem T die O im Rahmen der Auseinandersetzung mit insgesamt drei Pistolenkugeln traf und sie dadurch in nicht tödlicher Weise verletzte, hat er sich zudem nach §§ 223 I, 224 I Nr. 2 Alt. 1 StGB strafbar gemacht.
4. Zwischenergebnis
T ist strafbar nach §§ 212 I, 211 I, 22, 23 I StGB und §§ 223 I, 224 I Nr. 2 Alt. 1 StGB, die zueinander in Tateinheit nach § 52 StGB stehen.
Vernetztes Lernen: Behandlung von Konkurrenzen in der KlausurKonkurrenzen kommen naturgemäß in jeder einzelnen Strafrechtsklausur vor und sind damit das einzige Thema überhaupt, bei dem man mit einer Wahrscheinlichkeit von 100% sagen kann, dass es im Examen abgeprüft wird. Auch wenn die Konkurrenzen vergleichsweise kein besonders zugängliches Themengebiet sind und vor allem bei Zeitproblemen oft „hinten runterfallen“, sollte man sich deshalb gewisse handwerkliche Grundlagen aneignen, um die Konkurrenzen in der Klausur zumindest halbwegs souverän abzuarbeiten.
Bei Delikten, die naturgemäß andere Delikte enthalten und diese verdrängen (Konsumtion), kann man beispielsweise die Prüfung dieser auf Konkurrenzebene verdrängten Delikte weglassen und stattdessen im Ergebnissatz des verdrängenden Deliktes einfach kurz die verdrängten Delikte abhaken („A hat sich wegen Raubes strafbar gemacht. Die durch dieselbe Handlung mitverwirklichten Delikte des der räuberischen Erpressung, des Diebstahls, der Körperverletzung und der Nötigung treten dahinter im Wege der Konsumtion zurück.“). Das identische Verfahren bietet sich bei gesetzlicher Subsidiarität von Delikten (beispielsweise bei der Unterschlagung im Verhältnis zum Diebstahl) an.
Da man in der Klausur die Tatkomplexe typischerweise nach einheitlichen Lebensvorgängen, also nach Tateinheiten im Sinne des § 52 StGB bildet, kann man aus allen in einem Tatkomplex erfüllten Delikten an dessen Ende ein „Konkurrenzpaket“ schnüren („Die Delikte A, B und C, die der Täter durch sein Handeln auf dem Parkplatz verwirklicht hat, stehen zueinander in Tateinheit nach § 52 StGB, so wie hier im Fall). Auf dieser Ebene können auch etwaige weitere Verdrängungen auf Konkurrenzebene innerhalb des Tatkomplexes berücksichtigt werden.
Hat man zum Abschluss jedes Tatkomplexes ein solches „Konkurrenzpaket“ geschnürt, muss man am Ende der Klausur, wenn die Zeit davonläuft, den Komplex „Konkurrenzen“ nicht mehr von Null aufziehen, sondern muss lediglich das Verhältnis der Tatkomplexe zueinander klarstellen. Diese werden regelmäßig tatmehrheitlich nebeneinanderstehen („Die Delikte auf dem Parkplatz und die Delikte im Park, die untereinander jeweils im Verhältnis der Tateinheit stehen, stehen zueinander im Verhältnis der Tatmehrheit nach § 53 StGB“).
Zusatzfrage
Welche prozessualen Besonderheiten sind bei vorsätzlichen Tötungsdelikten in der Staatsanwaltsklausur im zweiten Examen zu beachten?Im A-Gutachten ist zu beachten, dass ein vorsätzliches Tötungsdelikt eine Katalogtat im Rahmen praktisch aller Vorschriften sein dürfte, die die Rechtmäßigkeit einer Beweiserhebung vom Vorliegen eines bestimmten Deliktsverdachts abhängig machen (bspw. § 100a StPO). Sollte aus anderen Grün-den doch mal ein (relatives) Beweisverwertungsverbot vorliegen, so ist im Rahmen der Abwägungslehre zudem zu beachten, dass das öffentliche Interesse an der Aufklärung von Tötungsdelikten besonders hoch ist und deshalb meistens überwiegen dürfte.
Gemäß § 136 IV Nr. 1 StPO müssen Beschuldigtenvernehmungen in Bild und Ton aufgezeichnet werden, wenn ein vorsätzliches Tötungsdelikt im Raum steht. Ebenso hat der Beschuldigte nach § 140 I Nr. 1, Nr. 2 StPO Anspruch auf einen Pflichtverteidiger. Wird gegen eines dieser Rechte verstoßen, resultiert daraus ein relatives Beweisverwertungsverbot, wobei im Rahmen der folgenden Abwägung natürlich wieder zu berücksichtigen wäre, dass die Öffentlichkeit ein besonderes Interesse an der Aufklärung von Tötungsdelikten hat. Ein Beweisverwertungsverbot liegt daher letztendlich wohl nur bei willkürlichen und vorsätzlichen Verstößen gegen die Beschuldigtenrechte vor.
Im B-Gutachten ist zu beachten, dass Mord und Totschlag Katalogtaten nach § 74 II Nr. 3, Nr. 3 GVG sind, weshalb die Anklage nur zum Schwurgericht beim Landgericht erhoben werden kann. Dies gilt indes nicht, wenn nur eine Versuchsstrafbarkeit im Raum steht. Aufgrund der hohen Strafandrohung kommt in vielen Fällen Antrag auf Verhängung oder Fortdauer von Untersuchungshaft nach § 112 I StPO in Betracht. Dem Wortlaut nach ist hierbei stets der Haftgrund aus § 112 III StPO einschlägig, dieser wird jedoch teleologisch dahingehend reduziert, dass bei Vorliegen der dort genannten Delikte lediglich geringere Anforderungen an das Vorliegen eines der anderen Haftgründe zu stellen sind.
In der Anklageschrift gibt es keine deliktsspezifischen Besonderheiten, da Tötungsdelikte allerdings vorsätzlich und fahrlässig verwirklicht werden können muss daran gedacht werden, im abstrakten Anklagesatz auch die jeweilige Vorsatzform zu erwähnen.
Aus dem Recht auf faires Verfahren (fair trial), welches aus Art. 6 III lit. d EMRK hergeleitet wird, ergibt sich auch die Ausprägung eines Rechtes des Angeklagten auf konfrontative Befragung eines Zeugen, der gegen ihn aussagt. Dieses Recht wird grundsätzlich verletzt, wenn ein Zeuge nur vom Ermittlungsrichter vernommen wird und dieser dann als Zeuge vom Hörensagen über den Inhalt der Aussage gehört wird (beispielsweise nach einer nachträglichen Berufung auf ein Zeugnisverweigerungsrecht), da der Richter logischerweise mögliche kritische Nachfragen des Angeklagten hinsichtlich des Inhalts der Zeugenaussage nicht beantworten kann. Allerdings ist in der Rechtsprechung anerkannt, dass das Konfrontationsrecht des Angeklagten nicht unbedingt besteht, so dass die Vernehmung des Ermittlungsrichters als Zeuge vom Hörensagen über den Aussageinhalt möglich ist, solange das erkennende Gericht gesteigerte Voraussetzungen an die Sorgfältigkeit und Vollständigkeit der Sachverhaltsermittlung stellt. Insbesondere muss es sich mit einer denkbaren Falschbelastung des ursprünglichen Zeugen auseinandersetzen, insbesondere damit, ob dieser sich durch die Aussage eigene Vorteile verschaffen wollte. Insgesamt muss das Verfahren in dem Maße fair gewesen sein, dass nach einer Gesamtschau der Umstände des Einzelfalles kein Verstoß gegen die Grundsätze des fairen Verfahrens vorliegt.
Zusammenfassung
1. Ein Heimtückemord ist auch in Fällen möglich, in denen der Täter die Abwehrmöglichkeiten eines an sich argwöhnischen Opfers durch ein von langer Hand vorbereitetes und geplantes Vorgehen konterkariert und das Opfer in einer bewusst gewählten Situation der eingeschränkten Abwehrmöglichkeiten angreift oder diesem gezielt eine Falle stellt.
2. Ein Rücktritt vom Versuch ist erst fehlgeschlagen, wenn der Täter nach seiner Vorstellung von der Tat nicht mehr in der Lage ist, den Taterfolg mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln und ohne wesentliche zeitliche Zäsur herbeizuführen.